Fritz Wunderlich - The Great German Tenor

Hubert Giesen über Fritz Wunderlich


aus seiner Autobiographie "Am Flügel: Hubert Giesen", Frankfurt am Main 1972, S. 251-260

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Unter allen Sängern, mit denen ich in fünfzig Jahren musiziert habe, gab es nur einen, den ich wirklich wie einen Sohn liebte. Das war Fritz Wunderlich. Unsere Freundschaft begann spät und endete schon nach dreieinhalb Jahren durch Wunderlichs jähen Tod, der, wie man ohne Übertreibung sagen kann, die ganze Musikwelt erschütterte.

Es ist schon merkwürdig, daß wir uns viele Jahre vorher kannten, ohne sonderlich Notiz voneinander zu nehmen; denn Wunderlich, der aus dem Pfälzer Bergland stammte, war bereits 1955 als frischgebackener Absolvent der Freiburger Musikhochschule an die Stuttgarter Oper gekommen und sang hier als lyrischer Tenor, sozusagen vor meiner Haustür. In Freiburg hatte er fünf Jahre lang studiert, und was er zuvor getan hatte, wußte niemand ganz genau. Die Opernfreunde Stuttgarts wurden sehr bald auf diesen "Lyrischen" aufmerksam. Man konnte Wunderlich nicht überhören.

Da er in dem selben Ensemble sang, in dem die Kammersängerin Ellinor Junker-Giesen (1) Koloratursoubrette war, hörte ich ziemlich oft von ihm: von seiner Intelligenz, seinen stimmlichen Qualitäten, aber auch von dem Ernst, mit dem er seine Rollen studierte. Das alles klang sehr gut, doch ich bin leider nie ein großer Opernfreund gewesen. Genauer gesagt: was mich an der Oper interessierte, war nicht ihr Inhalt und die mehr oder weniger rührende Handlung, sondern die Bewältigung einer sehr schwierigen musikalischen Aufgabe durch den Dirigenten.

Gelegentlich erzählte mir Josef Traxel, der erste Tenor, daß Wunderlich, "der Neue", jederzeit für ihn einspringen und seine Rolle in der "Zauberflöte" übernehmen könne. Einmal, als ich mit Traxel einen Liederabend gegeben hatte, fragte Wunderlich hinterher, ob wir nicht auch einmal etwas ähnliches machen könnten. Ich sagte ja, doch er vergaß es offenbar wieder. Im Jahr 1960 ging er nach München, wo seine steile Karriere begann. Er war bald der neue Mozartsänger, begeisterte mit Anneliese Rothenberger in der "Entführung" das Publikum, sang als Gast in Wien und an anderen großen Opern, wurde nach Salzburg verpflichtet, machte Konzertreisen. Die Agenturen rissen sich um ihn. Anfang 1963 stand ich vor dem Künstlereingang der Oper und wollte gerade in meinen Wagen steigen, als von der gegenüberliegenden Tankstelle ein junger Mann auf mich zurannte. Es war Wunderlich. "Hubsie", rief er atemlos, "ich suche dich wie eine Stecknadel. Deinetwegen bin ich nach Stuttgart gekommen."
"Was ist los?"
"Du mußt ab heute mein Begleiter sein."
Ich wußte, daß er in Wien mit Heini Schmidt, dem ersten Korrepetitor der Staatsoper, Lieder gesungen und in München mit meinem Freund Reinhardt im Herkulessaal Liederabende gegeben - aber ich wußte auch, daß er "getingelt" und bei allen möglichen Gelegenheiten Operettenarien und dergleichen gesungen hatte.
"Hö", sagte ich zu ihm wie zu einem Pferd, "was heißt das, ich muß dein Begleiter sein. Da könnte jeder kommen. Du bist jahrelang in Stuttgart gewesen, ohne dich um mich zu kümmern, warum soll ich dein Begleiter sein?"
Wir gingen ein Stück die Neckarstraße hinunter, und er packte in Stichworten aus. Nach dem Abend im großen Herkulessaal hatte einer der feinsten Musikkritiker Deutschlands, Walter Panofsky von der "Süddeutschen Zeitung", ihm bescheinigt, er sei ein großer Opernsänger, verstehe aber vom Liedsingen nichts.
"Ich war wie vor den Kopf geschlagen, weil er recht hat. Dann bin ich sofort zum Hermi gegangen..."
Hermi war Wunderlichs Freund Hermann Prey. "Und?" fragte ich.
"Ich habe ihm gesagt: Ich mach doch alles, was ich kann, arbeite mit meinen Begleitern, tue, was sie sagen, aber es wird nichts. Und der Hermi sagt: geh zum Hubsie Giesen nach Stuttgart. Aber paß auf: Widersprich ihm nicht, sondern tu alles, was er sagt..."
Wir gingen in die Musikhochschule, nahmen uns Schumanns "Dichterliebe" vor und begannen zu üben. Nach der ersten Seite hörte ich auf zu spielen, er schaute mich an und fragte:
"Wie findest du das?"
"Soll ich ehrlich sein?"
"Du mußt ehrlich sein", sagte er. "Deswegen bin ich hier."
"Also dann... ich finde es ziemlich schlecht."
"Siehst du", sagte Wunderlich erleichtert, als hätte ich ihm gerade ein großes Kompliment gemacht, "das finde ich auch."
Wir begannen ernsthaft zu üben und hörten in den nächsten Stunden nicht damit auf. Schließlich hatten wir intensiv vier Takte durchgearbeitet, bei denen ich Aussprache, Tonfärbung und Legato so hörte, wie ich es hören wollte. Dann mußte er zurück nach München. Doch schon am anderen Morgen rief er mich an und teilte mir mit, er habe eine Operettenproduktion beim Kölner Rundfunk abgesagt, um weiter mit mir üben zu können. Ob ich die nächsten drei Tage nach München kommen könne. Ich kam, und wir übten weiter. Am Ende dieser Tage sagte er: "Prey hat recht. Es hat keinen Zweck, dir zu widersprechen. Was soll ich denn auch sagen? Das hält uns doch nur auf."

Ich war, als wir damals anfingen, fünfundsechzig Jahre alt, er dreiunddreißig. Fritz Wunderlich ist nie mein "Schüler" gewesen, doch er betrachtete sich als Schüler, solange wir arbeiteten - dieser große Tenor, dem schon damals sämtliche Opernhäuser der Welt offenstanden. Er sagte auch weiter Termine ab, verzichtete auf Einladungen und arbeitete verbissen mit mir, bald in München, dann wieder in Stuttgart. Als wir schließlich ein kleines Programm zusammengestellt hatten, fuhren wir - auch das empfand ich als einen rührenden Zug von ihm - in seinen Heimatort Kusel, der in einem gottverlassenen Winkel der Pfalz liegt, im Glantal, an der Bundesstraße 420 zwischen Meisenheim und Ottweiler, und gaben dort seinen ersten Liederabend. Honorar nahmen wir nicht, man ersetzte mir lediglich die Unkosten. Von dort aus besuchten wir noch einige andere Orte und spielten uns ein. Es folgte eine Tournee durch größere Städte sowie die erste gemeinsame Schallplatte, und damit waren wir reif für die Salzburger Festspiele. Unser Programm begann mit "Adelaide" von Beethoven, einigen unbekannten Liedern von Beethoven und Schubert; im zweiten Teil folgte die "Dichterliebe" von Schumann. Der Erfolg war so groß, daß wir sofort "Die schöne Müllerin" von Schubert in Angriff nahmen, wiederum energisch daran arbeiteten und sie mit großem Erfolg in Wien und im Münchner Cuvilliéstheater brachten. Zwischen dem April 1963, als wir zum ersten Mal in Kusel auftraten, und den Edinburgher Festspielen im August 1966 reifte Fritz Wunderlich, schon damals gleich bedeutend als Evangelist, Oratoriensänger und Operntenor, zu einem der ergreifendsten Liedsänger seiner Zeit heran.

Das war nicht nur meine Meinung. Als wir im Hochsommer 1966 nach Edinburgh flogen, erregte Wunderlichs Auftritt allgemeine Anerkennung. Conrad Wilson schrieb in "The Scotsman" (einem Blatt, das den geistigen Rang der Londoner "Times" hat) eine lange Kritik über unser Konzert, in der er sehr bedauerte, daß der Manager der Festspiele, Mr. Peter Diamond, nicht mehr Raum für die beiden großen Liederzyklen Schumanns während der Festspiele gelassen hatte...
"...Dies um so mehr", schrieb Wilson, "nachdem man gestern nachmittag Fritz Wunderlich und Hubert Giesen mit der 'Dichterliebe' gehört hatte, vorgetragen in der Usher Hall ... Mr. Wunderlich, der uns als Mozartsänger aus Stuttgart und München bekannt ist, singt Lieder wesentlich ungezwungener als andere Opernsänger. Er ist ein lyrischer Tenor, besitzt einen klaren, sanften Ton und verfügt über Möglichkeiten des Ausdrucks und der Färbung, die er mit höchster Kunstfertigkeit einsetzt. Man sollte meinen, daß die Usher Hall diese Tugenden nicht gerade fördert, doch der gestrige Nachmittag bescherte uns einen fesselnden Gesang, mit Gruppen von Schubert- und Beethoven-Liedern sowie Liedern von Schumann. Und bei seinen großzügigen Zugaben brachte er uns auch noch rechtzeitig zu Richard Strauss.
Man erwartet normalerweise nicht, daß ein lyrischer Tenor die Düsterkeit einiger der von Verzweiflung erfüllten 'Dichterliebe'-Lieder trifft; doch in 'Ich grolle nicht' enthüllte Wunderlich plötzlich, daß er über Reserven eines dunklen, dramatischen Timbre verfügt, über eine mächtige, gefühlsbetonte Intensität. Das erschien um so überraschender, als er einige der früheren Lieder überaus sanft und zart behandelt hatte. Von diesem Augenblick an wurde von Lied zu Lied das ergreifende Fortschreiten dieses Musikwerks in seinen Zusammenhängen dargelegt. Es war eine tief empfundene, sorgfältig gesteigerte und singuläre Interpretation, bei der man nicht nur die Feinheit der Empfindung genoß, mit der Wunderlich jedes einzelne Lied behandelte, sondern auch sein Verständnis für die geheimen Beziehungen zwischen den aufeinanderfolgenden Liedern bewunderte..."
Wilson analysierte dann sorgfältig das ganze Programm, widmete dem "Mailied", dem "Wachtelschlag", "An Silvia" und der "Forelle" eigene Betrachtungen, fand aber, "daß Wunderlich in dem erregenden 'Lied eines Schiffers an die Dioskuren', in dem sanften 'Der Einsame' und dem elegischen 'Nachtstück' den tiefsten Eindruck hinterließ."
Auch mit widmete er einige Zeilen, die ich nicht verschweigen will: "Hubert Giesen, nun 68 Jahre alt, war die geglückte Wahl eines Begleiters, dessen Einklang mit dem Sänger und Gefühl für die Freude in der Musik winzige technische Fehler vergessen ließ. Wer Menuhins Biographie von Magidoff gelesen hat, wird sich daran erinnern, welche Rolle Giesen in der Entwicklung des jungen Geigers spielte. Seine brillante Begleitung zu Schuberts 'Pauçe' war eines der erfreulichsten Erlebnisse des gestrigen Konzerts."

[...]

Manchmal überkam mich in den Jahren meiner engen Zusammenarbeit mit Fritz Wunderlich eine Art Angst: Er war, trotz aller Unbekümmertheit, trotz seiner Freude, Zuversicht und Gelassenheit, einer jener Menschen, von denen man in England sagt, daß sie "ihre Kerze an beiden Enden anzünden". Er lebte aus dem Vollen, tat alles mit ungeheurer Energie und Intensität, als wisse er insgeheim, daß ihm das Leben keine allzulange Frist gelassen habe. Er kaufte Kameras und wurde ein Farbphotograph, der seine Bilder in einem Labor, das er sich zu diesem Zweck einrichtete, selber entwickelte. Das kostete ihn viel Arbeit und auch viel Geld. Er ließ sich vom Dorfschmied einen Spieß schmieden, mit dessen Hilfe er Fleisch auf offenem Feuer braten konnte und gab bezaubernde Parties, die oft eine halbe Nacht andauerten und bei denen er ungezwungen trank und rauchte, als sei er nicht ein Sänger, dessen kostbare Stimme sein größtes Kapital ist. Manchmal spürte man geradezu den Stress, unter dem er lebte - so beispielsweise an einem Tag, als wir gemeinsam die Schwabinger Wohnung von Hermann Mostar besuchten. Der Schriftsteller hatte ein großes Appartement in einem sechsstöckigen Hochhaus gekauft und lebte dort mit seiner Frau, kurz nach einer schweren Operation, die ihn sehr mitgenommen hatte. Aus Spaß hatte Frau Mostar im Gang ein Schild aufgehängt, "Schreien und Lärmen verboten". Wunderlich sah es und begann zu brüllen, zu singen, zu trampeln und mit den Fäusten gegen die Wände zu trommeln, als wolle er das Hochhaus einreißen.
Zu seinen zahllosen Fähigkeiten gehörte auch, daß er ausgezeichnet mit elektronischen Geräten umgehen konnte und diese Fähigkeit sehr sinnvoll nutzte. Wenn wir in seinem Haus zusammen arbeiteten, nahm er unsere Proben auf Tonbänder auf, die er sich vorspielte, wenn ich wieder abgereist war. Dann hatte er den Begleiter auf Band, konnte arbeiten, konnte aber auch bestimmte Stellen, die mir nicht gefallen hatten, repetieren und Fehler korrigieren.

Er war ein Alles-oder-Nichts-Mensch, ein Mann, der unentwegt anstrebte, das Beste aus dem zu machen, was die Natur ihm mitgegeben hatte. Was Wunderlich auszeichnete, war nicht nur die Stimme von unsagbarer Klarheit, nicht nur die Intelligenz und der Ernst, mit dem er studierte, sondern etwas, was man am besten als "Aggressivität" bezeichnet - jede Note kam geschlossen aus seinem Körper, er stand hinter jeder Note, sein Herz war in jeder Note.
In den letzten Jahren habe ich oft darüber nachgedacht, was Wunderlichs Stimme, gerade im Liedgesang, für die Zuhörer so unvergeßlich machte. Ich habe mit vielen Sängern zusammengearbeitet und weiß, daß einige von ihnen meine Vorstellungen von der Gestaltung eines Schubertliedes zwar teilten, daß sie aber unsere gemeinschaftliche Arbeit als schwere Belastung empfanden. "Du bist ein Sklaventreiber!" sagte mir einmal wütend ein Tenor, mit dem ich viele Erfolge hatte und heute noch freundschaftlich verbunden bin. Ganz schlecht kann meine Auffassung demnach nicht gewesen sein. Doch ich habe niemals versucht, einen Sänger auf ein bestimmtes Schema des Singens festzulegen. Worauf es mir ankam, war höchste Werktreue, Verständnis für die Dramaturgie eines Kunstliedes, aber auch für seine Bedeutung innerhalb eines Zyklus. Ich habe nicht "gelehrt", sondern mich bemüht, das Vorhandene zu verfeinern - was ein großer Unterschied ist. Aus diesem Grund lehne ich es auch ab, als "Lehrer" eines Mannes wie Wunderlich zu gelten. Andererseits hat unsere intensive Zusammenarbeit, dieser ständige Dialog am Klavier, nach und nach auf uns beide abgefärbt. Als Wunderlich in Edinburgh sang, stand er auf seine Art konkurrenzlos neben den großen Liedsängern seiner Zeit. Sein Verständnis für ein Lied wie "Die böse Farbe" (im "Müllerin"-Zyklus von Schubert) war so groß, daß er es sich leisten konnte, dieses Lied einfach durch sich selbst wirken zu lassen. Wer es heute von ihm hört, bemerkt, daß er fast schmucklos sang, aber mit einer Deutlichkeit, bei der keine Note verloren ging, daß nichts elegant übergangen und kein falsches Pathos oder Sentiment in das Lied zusätzlich hineingelegt wurde, und daß er dadurch den größeren - man würde besser sagen: den edelsten - Effekt erzielte. Die Zuhörer im Saal erhielten das, was Schubert bei der Komposition gewollt hatte, "aus erster Hand"; sie wurden nicht mit den Gefühlen des Sängers konfrontiert, seiner Koketterie, seiner Liebe zum bel canto, sondern ganz allein mit dem Lied. Dahinter standen Jahre der gemeinsamen Arbeit, Jahre eines wachsenden Verständnisses für Präzision, man kann auch sagen: Dienst am Liedgesang. Wunderlich verfügte über hohe Töne, die ihm mühelos gelangen, doch er sang sie ohne Prahlerei, wie alle anderen Töne, die zu einem Lied gehören. Diese nur scheinbare Herbheit und Sachlichkeit erzeugte nun allerdings beim Hörer einen ganz merkwürdigen Effekt. "Ich habe 'Die böse Farbe' von zahlreichen Sängern gehört", sagte Jahre nach seinem Tod eine Dame zu mir und nannte mehrere große Namen, "doch nur bei Fritz Wunderlich ging es mir so, daß ich plötzlich weinen mußte, weil ich nicht mehr den Sänger, nur noch das Lied hörte. Es war mir, als hätte ich zum ersten Mal begriffen, was es eigentlich ausdrücken will..."

Nach dem Edinburgher Konzert sagte ich zu ihm:
"Fritz, du hast heute so wunderbar gesungen, und wir waren eine solche Einheit - ich glaube, du bist jetzt vollkommen. Ich kann dir nichts mehr sagen."
Er war wütend auf mich und schrie mich an:
"Was, du willst mir nichts mehr sagen? Solange du lebst, bleibe ich dein Schüler! Du sagst mir alles, was du weißt, und wenn ich einmal ein bißchen schlechter singe, mußt du um so besser spielen, daß man es nicht hört."
Es war eines unserer letzten Gespräche. Ich habe noch Jahre später daran zurückdenken müssen.

Wunderlich stammte aus einfachen Verhältnissen; ob er die Oberschule besucht hat, weiß ich nicht. Als wir 1963 in seine Heimatstadt Kusel fuhren, war sein Vater bereits tot, nur eine Schwester war beim Konzert anwesend. Seine Mutter habe ich später einmal in seiner Wohnung kennengelernt, wobei er mir erzählte, daß sie früher Violinstunden gegeben hatte. Wahrscheinlich hatte er von ihr seine Musikalität geerbt, doch das alles bleibt für mich Vermutung, so wie ich auch wenig über seine wilden Jugendjahre wußte, und von seinem Gesangsstudium an der Freiburger Hochschule. Nach seiner Darstellung war er, Akkordeon spielend, Waldhorn blasend (was vermutlich seinen Lungen ihre außergewöhnliche Kraft gegeben hat) und singend durch die Pfalz gezogen und hatte sich auf diese Weise sein Geld verdient. Er war mittelgroß, ein wenig - aber wirklich nur ein wenig - stämmig, mit einem scharfgeschnittenen Gesicht, in dem eine gerade und etwas zu spitze Nase saß. Diese Nase machte ihn nicht schöner, doch merkwürdig! - wenn er in dem Gewand des Belmonte auftrat, diesem Phantasiekostüm mit seinen Rokoko-Rüschen, verlieh ihm gerade diese Nase etwas Diabolisch-Verführerisches.

Etwa drei Wochen nach unserem letzten Gespräch erhielt ich die Nachricht von seinem Tod. Da es bald darauf die irrsinnigsten Gerüchte gab (in Wien behauptete man, er habe sich bei einem russischen Roulette eine Kugel in den Kopf geschossen (2)), will ich kurz auf die näheren Umstände eingehen. Er war zu einem Jagdfreund gefahren, einem reichen Industriellen, dessen Haus in Oberderdingen bei Maulbronn steht. Fritz Wunderlich war nicht nur ein vorzüglicher Porschefahrer, sondern auch ein leidenschaftlicher Jäger. Als sich die Familie und die Gäste am Abend zurückzogen, ging auch Wunderlich in sein Zimmer im Erdgeschoß, verließ es aber bald darauf, um sich aus der Bibliothek im ersten Stock ein Buch zu holen. Wahrscheinlich war er deshalb nochmals in die Schuhe geschlüpft, hatte die Schnürsenkel aber nicht mehr gebunden. Auf dem Rückweg über die Treppe trat er offenbar auf einen Schnürsenkel und stolperte. Um sich zu halten, griff er nach dem Geländer, das aus einem dicken Tau bestand; das Tau riß die Verankerung aus der Wand heraus und der Sänger stürzte kopfüber ein Stockwerk tief auf den mit Steinplatten belegten Boden. Dabei muß er sich gedreht haben und mit dem Hinterkopf zuerst aufgeschlagen sein. Als man ihn fand und ins Heidelberger Krankenhaus brachte, lag er bereits in tiefer Bewußtlosigkeit, aus der er nicht mehr erwachte.

Er war gerade sechsunddreißig Jahre als, er hatte in elf Jahren den Rang eines bedeutenden Opernsängers und eines vorzüglichen Evangelisten erreicht - doch ich war immer überzeugt, seine Karriere als Liedsänger würde ebenso erfolgreich verlaufen. Alles lag noch vor ihm, als er, nach einem kurzen, ruhelosen, in jeder Minute ausgefüllten Leben starb. Für mich war es der Verlust einer großen, persönlichen Freundschaft. Ich muß es wiederholen: Ich liebte ihn wie einen Sohn, und ich glaube auch, er sah mehr als nur den Lehrer in mir.


(1) Giesens Ehefrau (AP)
(2) Diese Version wurde mir noch im Jahre 1996 in einem Münchner Wirthaus ungefragterweise von der Kellnerin (!) erzählt. (AP)

© by S. Fischer Verlag GmbH 1972.

Vgl. Biographie und Photo von Hubert Giesen

Andreas Praefcke, 1998.

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