Fritz Wunderlich - The Great German Tenor

"Wer natürlich singt, braucht keine besondere Technik"


Fritz Wunderlich im Gespräch mit Egloff Schwaiger
aus: "Warum der Applaus - Berühmte Interpreten über ihre Musik", S. 317-323

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[...] Als Rafael Kubelik 1963 den 'Xerxes' von Händel aufnahm [hier irrt Schwaiger, die Aufnahme fand 1962 statt, A.P.], setzte er für die Partie des Titelhelden wie üblich eine Reihe von Aufnahmetagen an. Fritz Wunderlich, der den Xerxes nie zuvor gesungen hatte, brachte es durch seine Musikalität, durch seine Stilsicherheit und souveräne Stimmführung zu aller Erstaunen fertig, mit einem Drittel der vorgesehenen Zeit auszukommen, obwohl in den Xerxes-Arien äußerst schwierige Koloraturen enthalten sind, die bei Rundfunkaufnahmen, bei denen es auf minuziöse Genauigkeit ankommt, nur selten auf Anhieb gelingen. Alle Dirigenten, unter denen Fritz Wunderlich sang, haben ähnliche Erfahrung mit ihm gemacht.

"Ich hatte zwar den Xerxes noch nie gesungen, aber viele andere Barock-Arien, denn mit der alten Musik fing es bei mir an. Ich stamme aus Kusel, einem kleinen pfälzischen Städtchen, und kam auf verschlungenen Wegen 1950 nach Freiburg an die dortige Musikhochschule, die Gustav Scheck zusammen mit Willibald Gurlitt nach dem Krieg gegründet hatte. Dr. Scheck nahm mich gleich in den bekannten, seit 1930 bestehenden 'Kammermusikkreis Scheck-Wenzinger' auf, der als erstes Barock-Ensemble mit alten Instrumenten musizierte. Um mir mein Studium zu verdienen, machte ich nebenbei Jazz. Nachts blies ich Trompete, spielte Akkordeon und sang Schlager; und am Morgen, nach einigen Stunden Schlaf, studierte ich in der Hochschule Monteverdi und Lully. Dieses Hineinwachsen in die alte Musik war für meine musikalische Entwicklung sehr entscheidend, weil ich das lernte, was für einen Sänger und überhaupt für einen Musiker ungeheuer wichtig ist: das Stilgefühl. Wer Stilgefühl hat und weiß, wie man die Dinge auseinanderhält, dem kann eigentlich nichts passieren; er kann schließlich jede Art von Musik machen, ohne sich etwas zu vergeben."

"Das Stilgefühl allein macht aber noch keinen Sänger. Er muß ja, abgesehen von der Stimme, die er mitbringt, auch über eine bestimmte Technik verfügen und gelernt haben, richtig zu atmen."

"Das ist völlig richtig. Aber das mit dem Atmen ist so eine Sache. Man sagt mit Recht, ein Sänger muß einen langen Atem haben, genauso wie er eine wohlklingende Stimme haben muß. Doch man kann den Atem verlängern, wenn man es so anzustellen weiß, daß man zwischen den Tönen keine Luft verschenkt. Das Problem des Atmens besteht für den Sänger darin, daß er mit dem Stickstoff fertig werden muß, der sich ansammelt, wenn er die Luft anhält. Wir singen ja mit verbrauchter Luft und nicht mit frischer. Der Körper will aber nach einer gewissen Zeit wieder Sauerstoff haben. Ich muß also versuchen, die mir zur Verfügung stehende Luft so gut wie möglich auszunützen, um nicht wieder neu einatmen zu müssen, bevor es die musikalische Phrase erlaubt. Man kann einen langen Atem bis zu einem gewissen Grad auch durch Trainieren erreichen, so wie ihn der Taucher durch Trainieren erreicht. Und manchmal kommt man durch Zufall darauf, daß man einen längeren Atem hat, als man zunächst glaubt.
Ich will Ihnen eine Episode erzählen: Ich sang im Juni 1963 bei den Wiener Festwochen unter Herbert von Karajan den Don Ottavio im 'Don Giovanni'. In der Generalprobe bat mich Herr von Karajan, vor der Reprise der Arie 'Folget der Heißgeliebten' an einer anderen Stelle zu atmen, als ich es gewohnt war. Ich habe das in der Probe auch getan, aber in der Premiere einfach vergessen. Ich mußte mich, nachdem ich es gemerkt hatte, im Bruchteil einer Sekunde entscheiden, ob ich den Koloraturfluß unterbrechen oder riskieren sollte, die ganze Phrase auf einem Atem zu singen. Ich habe es versucht und es ging gut. Herbert von Karajan, dem nicht entgangen war, warum ich alles auf einen Atem genommen hatte, kam dann zu mir auf die Bühne und sagte lachend, Sie sehen, wie einem gelegentlich der Zufall zeigt, was man kann. Ich habe von da an diese Arie nur noch so gesungen. Man sollte ja bei Mozart und vor allem auch bei Bach so wenig wie möglich atmen. Bach verlangt noch mehr als Mozart eine fast instrumentale Stimmführung, bei der man sich nicht auf das Expressive und auf den Stimmausdruck, sondern auf die reine Interpretation der Komposition konzentrieren muß. Das ist wiederum eine Stilfrage. Wenn man bei jeder Musik weiß, wie man sie zu singen hat, kann man ohne weiteres eine Operette und hinterher eine Bach-Arie singen."

"Weil sie von Bach sprechen: Sie haben ja in den Passionen nicht nur die Tenor-Arien, sondern auch den Evangelisten gesungen. Ist diese Partie nicht eine besonders schwierige Aufgabe?"

"Der Evangelist bei Bach ist sogar eine der schwierigsten Partien. Daß Bach sie für einen Tenor schrieb, hat einen guten Grund: In der höheren Stimmlage versteht man im allgemeinen mehr vom Text als in der tieferen. Und beim Evangelisten kommt es in erster Linie auf das Verstandenwerden an, denn er erzählt etwas. Er ist aber nicht nur Erzähler, sondern zugleich auch Beteiligter. Diese schwierige Mischung aus sachlichem Erzählen und innerem Beteiligtsein ist das eigentliche Problem beim Evangelisten."

"Vermutlich auch deshalb, weil beide Komponenten völlig natürlich erscheinen sollen?"

"Die Natürlichkeit ist beim Singen das allerwichtigste. Ich finde, man spricht viel zu viel von der Technik; auch die Gesangslehrer überschätzen meist die technische Seite am Singen. Es gibt im Grunde nur eine Technik: die Technik der absolut natürlichen Tongebung. Man beherrscht diese natürliche Tongebung, wenn man beim Singen so wenig wie möglich verändert und auf dem schwingenden Ton wie ein Instrumentalist spielt. Wenn man das tut, verschenkt man auch am wenigsten Luft.
Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel klarmachen: Ich kann auf einem lang angehaltenen Ton von einem offenen italienischen a ohne hörbaren Übergang zu einem reinen geschlossenen o kommen. Ich ändere lediglich die Resonanzstellung, der Ton bleibt dagegen unverändert stehen. Noch deutlicher wird es bei dem Kontrast zwischen i und o. Wenn ich die beiden Laute i und o einzeln auffasse, komme ich nie zu einer einheitlichen Gesangslinie. Wenn ich eine Kantilene, ein Belcanto anstrebe, muß ich mir darüber im klaren sein, daß es immer nur einen einzigen Ton gibt, auf dem ich verschiedene Vokale hörbar mache. Denken Sie zum Beispiel an die Arie des Ferrando im ersten Akt von 'Così fan tutte': Im italienischen Original beginnt sie mit den Worten 'un aura amorosa'. Diese Worte sind alle auf einen Klang komponiert; zwischen u, au, a und o ist kaum ein Unterschied. Wenn ich die Arie in Deutsch singe, dann muß ich versuchen, die sehr unterschiedlichen Vokale in den Wörtern 'der Odem der Liebe' auch auf einen Klang zu bringen, um eben der Mozartschen Komposition zu entsprechen. Das ist das Geheimnis der richtigen Interpretation. Vom Sängerischen her gesehen ist es das Natürlichste."

"Sie sprechen nur vom Sängerischen. Man muß aber doch eine Rolle auch gestalten und in der Interpretation zu einem ihr gemäßen Ausdruck finden."

"Bei Mozart muß man eher darauf achten, nicht zuviel Ausdruck zu geben, denn er hat alles, was er an Ausdruck wollte, komponiert. Wenn man die Noten richtig zum Klingen bringt, ist auch der Ausdruck da."

"Was bringt dann der Sänger noch an Persönlichkeit mit?"

"Das ist eine gefährliche Frage. Auf der Bühne verleitet die körperliche Entspannung durch das Spiel leicht dazu, den musikalischen Ausdruck zu überziehen. Je mehr man sich dem Darstellerischen überläßt, um so größer wird die Gefahr, des Guten zuviel zu tun und Oper zu machen. Beschränkt man sich dagegen auf sparsame Bewegungen und verhaltene Gestik, dann schießt man auch im musikalischen Ausdruck nie über das Ziel hinaus. Im übrigen bringt ja jeder Sänger sein individuelles Timbre und seine eigene, unverwechselbare musikalische Diktion mit. Wenn er allein das ausdrückt, was er wirklich empfindet, fühlt und denkt, ist das persönlich genug."

"Gibt es für Sie eine scharfe Trennung zwischen einem lyrischen und einem dramatischen Tenor?"

"Auch das ist eine schwierige Frage, über die schon viel diskutiert wurde. Eine scharfe Trennung gibt es sicher nicht, aber ich glaube, daß man entweder zu einem lyrischen oder zu einem dramatischen beziehungsweise heldischen Tenor geboren wird. Ich halte es zwar für möglich, aber nicht für notwendig, daß ein lyrischer Tenor mit zunehmendem Alter - also mit zwei- oder dreiundvierzig Jahren - in das schwere Fach einsteigt. Man kann eine Stimme durch größere Belastung schwerer und widerstandsfähiger machen, aber das Leichte, das weiche Belcanto, bleibt dann aus."

"Wo sehen Sie für sich die Grenze?"

"Ich habe mir für die nächsten zehn bis zwölf Jahre die Grenze bei den leichteren italienischen Partien gesetzt, also etwa beim Rudolf in der 'Bohème' oder beim Herzog im 'Rigoletto'. Der Rudolf ist eigentlich schon eine Ausnahme, die man machen kann, weil es Puccini verstanden hat, seine Melodien so in die Stimme hineinzukomponieren, daß eine scheinbare Belastung hörbar wird, die sich aber in Wirklichkeit als ganz natürliche Schwingung der Stimme erweist. Die hohen Töne liegen bei Puccinis Stimmführung einfach in der Stimme drin. Das beste Beispiel ist das hohe c am Schluß der Rudolf-Arie 'Wie eiskalt ist die Händchen'. Es ist einer der leichtesten Spitzentöne in der ganzen Tenorliteratur, weil er sich völlig selbstverständlich aus einem Melodiebogen ergibt. Man braucht nur den Mund aufzumachen, und er ist da. Bei Verdi sind die hohen Töne viel exponierter, weil sie oft aus großen Intervallsprüngen anzusetzen sind. Verdi stellt viel höhere Anforderungen an die Beweglichkeit und damit auch an die Leistungsfähigkeit der Stimme. Puccini ist ein Komponist, der dem Sänger entgegenkommt, Verdi dagegen einer, dem der Sänger entgegenkommen muß. Ich kann daher bei Puccini die Grenze höher setzen als bei Verdi."

"Und wie steht es bei Ihnen um die andere Grenze zum Leichten, zum Buffo hin?"

"Das ist für mich ein besonders reizvolles Gebiet. Wir lyrischen Tenöre haben den dramatischen und heldischen Tenören voraus, daß wir auch leichte Opern und Operetten singen können. Aber ich bin der Meinung, daß ein Komponist wie Lortzing einem Tenor die gleichen Probleme bietet wie Mozart. Auch da kommt es darauf an, ganz präzis zu intonieren; und das ist nicht einfach. Außerdem verlangt gerade die Spieloper ein ausgeprägtes Stilgefühl. Wenn ich zu der Musik, die Lortzing komponiert hat, etwas dazu tue, dann bringe ich in den Lortzing eben einen Schuß Wunderlich hinein. Und das ist gefährlich, sobald dieser Schuß Wunderlich zu groß wird.
Noch gefährlicher ist es in der Operette. Ein lyrischer Tenor muß Operette singen. Es macht auch eine Höllenfreude, wenn man sich zwischendurch wieder einmal stimmlich austoben kann. Aber auch hier muß man Stilgefühl beweisen. Man kann seine Stimme ruhig strömen lassen, doch man darf keine Faxen dabei machen. Die Faxen vermeidet man am ehesten dann, wenn man zwischendurch immer wieder Lieder singt. Das Lied zwingt einen zur schärfsten Kontrolle. Ich bin sehr spät erst zum Lied gekommen. Aber nicht deshalb, weil ich vorher keine Beziehung dazu hatte, sondern weil ich wußte, daß ich nur dann Lieder singen kann, wenn ich meine Stimme absolut beherrsche. Das ist die wichtigste Voraussetzung für das Lied: Man darf unter keinen Umständen die geringste gesangstechnische Schwierigkeit haben. Am Lied erkenne ich, ob ich singen kann. Wenn ich seit einigen Jahren Liederabende gebe, dann tue ich es, weil ich das Gefühl habe, ich fange allmählich an, richtig zu singen."


© by Franz Ehrenwirth Verlag KG München 1968

Andreas Praefcke, 1996.

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